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Das bisschen Champagner

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Kamelien, ein Graf und Meeresfrüchte – von Santiago de Compostela nach Porto – Part 1

Leise fallen feine Regentröpfchen auf Pflastersteine und verwandeln die sanft beleuchtete Altstadt in eine magisch glänzende Bühne. Romantik liegt in der Luft. Paare schmiegen sich unter Schirmen aneinander und flanieren durch verwinkelte Gassen. Champagner, so nennen die Einwohner Galiciens diesen feinen Sprühregen, der so bezeichnend ist für Santiago de Compostela, die Hauptstadt des „Grünen Spaniens“, Weltkulturerbe der UNESCO und berühmten Wallfahrtsort.

Es ist Anfang Oktober, der zweite Corona-Sommer neigt sich seinem Ende entgegen und ich versuche mich an ein wenig Reise-Normalität. Normal ist natürlich nichts, aber es ist ein Anfang, und dem liegt bekanntlich ein Zauber inne. In Spanien herrschen trotz sehr niedriger Inzidenz strenge Auflagen, und ich bin begeistert, wie gewissenhaft, alle mitmachen. Jede Maske sitzt akkurat, Abstände und Hygienekonzepte werden akribisch eingehalten, die Impfquote ist beneidenswert hoch. Nach eineinhalb zermürbenden Jahren im zerstrittenem Corona- Deutschland ist das eine wundervolle Erfahrung.

Die Hauptstadt Galiciens zieht seit dem Mittelalter Jakobspilger aus aller Herren Länder an. Sie gilt nach Rom und Jerusalem als drittheiligste Stadt der Christenheit. Überlieferungen zufolge wurden hier die Knochen von Jakobus dem Älteren, Apostel Jesu Christi und Nationalheiligem der Spanier, begraben. Im 9. Jahrhundert wurde die vergessene Stätte wieder entdeckt, und dann aus riesiger Freude darüber, erst eine kleine Kapelle, und schließlich die monumentale Catedral de Santiago errichtet. Die Kathedrale, bei Kilometer 0, ist das Ziel des Jakobsweges, dem ältesten Pilgerweg und der ersten Kulturstraße Europas. Eigentlich handelt es sich dabei um ein ganzes Netz von Pilgerrouten. Die bekanntesten sind der französische, der englische und der portugiesische Jakobsweg, die jeweils in einem der drei Eingänge der Kathedrale enden. Inquisition, Konfessionsstreitigkeiten, Kriege und Seuchen sorgten dafür, dass der Jakobsweg mehrfach in Vergessenheit geriet und im Zuge der Säkularisierung immer mehr an Bedeutung verlor. So kamen in den 1970er Jahren weniger als 100 Pilger jährlich nach Santiago. Der spanische Priester Elías Valiña Sampedro begann im Jahre 1980, den Camino Francés in Nordspanien mit gelben Pfeilen zu markieren, kümmerte sich um den Aufbau eines Herbergsnetzes und um eine gute PR. Von da an stiegen die Pilger-Zahlen kontinuierlich auf 300.000 im Rekordjahr 2019. Als Pilger zählt, wer die letzten 100 Kilometer des Weges gelaufen ist. Werden Hilfsmittel wie Fahrrad, Pferd oder Schiff verwendet, gilt die doppelte Strecke, wobei E‑Bikes offiziell verboten und inoffiziell geächtet sind. Das Pilgerbüro kontrolliert die Stempel und verleiht die begehrte Urkunde. Mittlerweile geht das auch digital mittels App und QR-Code. Traditionell kommen die meisten Pilger aus Spanien, Italien, Portugal und Frankreich. Seit jedoch ein gewisser Hape Kerkeling mit seinem Bestseller „Ich bin dann mal weg“ einen unglaublichen Pilgerhype bei seinen Landsleuten auslöste, nehmen die Deutschen den Spitzenplatz ein. Die Corona-Pandemie führte indes zu einem erneuten Einbruch. Doch schon in diesem Sommer hat sich die Lage ein wenig entspannt und immer mehr Pilger finden ihren Weg zurück. Fällt der Jakobustag am 25. Juli auf einen Sonntag, wird per päpstlichem Dekret ein heiliges Jahr, das Xacobeo ausgerufen, und der Bischof öffnet die heilige Pforte der Kathedrale – das Tor zum Paradies – die ansonsten verschlossen bleibt. Jedem Katholiken, der sie durchschreitet und die Beichte ablegt, wird die Absolution erteilt, was ein schöner zusätzlicher Anreiz ist, sich auf den Weg nach Santiago zu machen. Das Jahr 2021 ist ein Xacobeo, und aus Rücksicht auf die spezielle Situation wird es verlängert, so dass die heilige Pforte auch 2022 geöffnet bleibt.

Die Kathedrale ist die größte Sehenswürdigkeit der Stadt, ein romanisch-barockes Meisterwerk mit kunstvollem Glorienportal des Meisters Matteo, dem größten Weihrauchkessel der Welt, der Krypta mit dem Jakobusgrab und zahlreichen Seitenkapellen, in denen sich die Beichte in einer Vielzahl von Sprachen ablegen lässt, von Englisch bis Filipino. Jahre des Massentourismus und die hohe Feuchtigkeit haben ihre Spuren hinterlassen. Für acht Millionen Euro wurde die Kathedrale jüngst zwei Jahre lang renoviert und gesäubert, jetzt erstrahlt sie in neuem Glanz. Neuerdings lässt sich die Kathedrale auch nachts mit einer Führung besuchen. Ein modernes, alternierendes Beleuchtungskonzept sorgt für mittelalterliche Lichtstimmung und die nächtliche Ruhe für Besinnlichkeit, im Kontrast zum wuseligen Tagesbetrieb.

Und wie war das jetzt gleich mit der Muschel? Die Jakobsmuschel ist omnipräsent im Stadtbild. Sie ziert Mauern, Kirchen, die Rucksäcke und Stäbe der Pilger, und nicht zuletzt die Kühlschrankmagnete in den Souvenirläden. Der gemeine mittelalterliche Zeitgenosse hatte natürlich nie das Meer gesehen. So begaben sich viele Pilger nach ihrem Besuch in der Kathedrale auf den 60 Kilometer langen Abstecher zum Kap Finisterre, dem Ende der Welt. Von dort nahmen sie sich als Andenken eine Muschel mit. Findige Zeitgenossen witterten ein Geschäft, gründeten den Orden der Muschler und schafften tausende Muscheln nach Santiago, die sie – quasi als Stempel aus der Natur – an die Jakobspilger verkauften. Eine Wallfahrt dauerte damals oft Jahre, wurde durch Spenden der Dorfgemeinde und durch Arbeit en route finanziert.

Die Muschel diente als Nachweis der erfolgreichen Pilgerschaft. Getreu dem Motto „Hilfst Du einem Pilger, hilfst Du Gott“, mussten Muschelträger nicht mehr für Kost und Logis arbeiten, damit sie schnellstmöglich nach Hause ziehen konnten. Selbstredend entstand sehr bald ein Schwarzmarkt für Muscheln, und manch Pilger kehrte gar nicht mehr in sein Dorf zurück, sondern genoss sein neues Leben in Saus und Braus. Im 13. Jahrhundert wurde die Urkunde als Nachweis der Pilgerschaft eingeführt. Als Symbol ist die Jakobsmuschel geblieben.

Doch nicht nur Gläubige pilgern nach Santiago, sondern auch Foodies. Die Region ist bekannt für ihre hochwertigen Produkte – Käse, Wein, Rindfleisch, Pimientos de Padrón, und an erster Stelle Fisch und Meeresfrüchte. Die zahllosen Tapasbars und Restaurants der Stadt zählen zu den herausragendsten in ganz Spanien. Eine Generation junger Köchinnen und Köche belebt mit frischen Ansätzen die Gastronomie-Szene der Stadt. So wie Lucía Freitas, die frisch gekürte Sterneköchin. Mit einem einfachen kleinen Restaurant direkt neben dem Fischmarkt hat die 39jährige vor zwölf Jahren ihre Karriere begonnen.

Heute betreibt sie das Lume, eine ungezwungene, wenngleich top designte Tapas-Bar, wo an langer Tafel raffinierte „raciones“ mit Freunden geteilt werden, und das gediegene A Tafona, in dem Lucía ihren Stern erkocht hat. Hier lässt sich wunderbar ein langer Mittag oder Abend bei einem kreativen Menü verbringen, das trotz Spitzenqualität die Reisekasse nicht übermäßig strapaziert. So kostet das 9‑Gang- Degustations-Menü gerade einmal 85 Euro, 14 Gänge schlagen mit 115 Euro zu Buche. Jeden Morgen startet Lucía mit einem Besuch auf dem Mercado de Abastos, dem Bauernmarkt in der Altstadt. Sie fasst die Produkte mit eigenen Händen an und sucht nur das Beste aus. Hier trifft sie ihre Kollegen und Freunde. Mit vielen Händlern ist sie in jahrelanger Treue verbunden, wie Familienmitglieder haben sie Lucía bei ihrem Werdegang unterstützt, Magharita, eine der Fischhändlerinnen ist sogar die Patin ihrer Tochter. Die Seele Galiciens finde sich hier in den acht Hallen zwischen Blumen, frischem Gemüse, Käse, Wein, Fleisch und natürlich der Vielfalt aus dem Atlantik. Fisch und Meeresfrüchte so weit das Auge reicht, ein wahres Muscheln-und Austern-Paradies. Wer will genießt die Leckereien direkt und frisch bei einem Glas Albariño-Wein in der Gastronomie-Halle, oder in der so genannten Fressgasse neben dem Markt. Sehen-und-Gesehen-werden – gerade samstags ist der Fischmarkt the place to be für alle, die etwas auf sich halten.

Auch Kulturfreunde kommen auf ihre Kosten, besonders eindrucksvoll in der Cidade da Cultura, der „unvollendeten“ Kulturstadt, wenige Kilometer östlich von Santiago auf dem Monte Gaiás. Unter der Führung des Architekturpapstes und Dekonstruktivisten Peter Eisenmann wurde hier ein exzentrisches Großprojekt aus Granit und Glas realisiert, das sich durch diverse Wechsel in der Politik seit Jahren wandelt und vergrößert, ein work-in-progress mit offenem Ende. Hier gibt es wechselnde Ausstellungen und Kulturveranstaltungen zu besuchen.

Während der Pandemie wurde in den Hallen auch gegen Corona geimpft. Spannend vor allem für Architekturinteressierte.

Galicien ist ein Land voller Mystik, stark geprägt vom keltischen Erbe, das sich beispielsweise in den Hórreos zeigt, Getreidespeicher, die zum Schutz vor Nässe und Schädlingen auf steinernen Stelzen stehen.

Kreuze und Phalli auf den Dächern sollen Hexen und böse Geister vertreiben und verdeutlichen die spezielle galicische Mischung aus Religion und Heidentum.

Die wilde Seite der autonomen Region zeigt sich an der Atlantikküste. Wikinger und Piraten trieben hier vor langer Zeit ihr Unwesen. In den 1980er und 90er Jahren traten Drogen-Barone in ihre Fußstapfen, als die dünn-besiedelte Küste zum wichtigsten europäischen Umschlagplatz für südamerikanisches Kokain und Heroin wurde. Die prächtigen Villen der einstigen Drogenbosse blieben als Mahnmale zurück. Manch eine fand jedoch zu einer neuen Bestimmung in einem stattlichen Weingut, wie etwa dem Adega Condes de Albarei, in dem im 500 Jahre alten Pazo Baión fruchtige Albariño Weine gekeltert und statt Kartell-Treffen nun Hochzeiten ausrichtet werden.

Überhaupt der Wein. Das Landschaftsbild ist geprägt von üppigen Weinterrassen. Die Weine der Region Rías Baixas zählen zu den besten Spaniens. Rías Baixas bedeutet so viel wie „versunkene Flusstäler“ und umfasst die vier Meeresbuchten Ría de Muros, Ría de Arousa, Ría de Pontevera und die Ría de Vigo, die sich vom Kap Finisterre im Norden bis zur portugiesischen Grenze ziehen. Rías sind fjordähnliche Flussmündungen. Durch die teils tiefen Einbuchtungen ins Landesinnere verfügt Galicien mit über 1600 Kilometern über die längste Küste der iberischen Halbinsel. Die besondere Mischung aus Fluss- und Meerwasser: salzarm und planktonreich, und der Schutz durch die Rías, sorgen für ideale Bedingungen für den Muschelanbau, wie etwa der berühmten Venusmuschel, der Almejas de Carril. Nicht zu Unrecht wird die galicische Küste als „Costa do Marisco“ – als Meeresfrüchteküste – bezeichnet. Doch finden sich hier nicht nur Muschelgenossenschaften und Konservenfabriken, sondern, dank strenger Auflagen, auch viel unberührte Natur. Fast die gesamte Küste steht unter Naturschutz. Es gibt keine großen Resorts, trotz der traumhaften weißen Sandstrände.

Die Muschler und Fischer, die Bauern des Meeres, haben strikte Quoten und sorgen sich um Nachhaltigkeit. Birdwatcher lieben die Küste, gibt es hier doch eine große Vielfalt an Vögeln zu sichten. Über 200 verschiedene Vogelarten tummeln sich entlang der Küste.

Dank des atlantischen Klimas sind die Temperaturen im Herbst noch mild. Zwiebelkleidung empfiehlt sich für sonnige Stunden am Mittag, spontane Schauer und frischere Abendstunden. Auch im Hochsommer bleibt es hier angenehm frisch, was besonders Spanier aus dem Süden und den Kanaren in den Norden zieht, die sich freuen, im Sommer auch mal eine Jacke tragen zu dürfen. Der viele Regen sorgt für üppiges Grün und Blumenpracht das ganze Jahr über. Hier wächst und gedeiht so gut wie alles: überbordende Hortensien, Esskastanien, Seestrandkiefern, Korkeichen, Kiwis, Mandarinen, Zitronen, Eukaylptus, Araukarien, manch Sorte von der benachbarten Seefahrernation Portugal importiert.

Besonders imposant ist die Kamelie, eine asiatische Schönheit, die vor 300 Jahren ihren Weg in die Gärten portugiesischer und galicischer Adeliger fand und in den Wintermonaten die Gärten zum Strahlen bringt. Zwanzig Meter hoch kann ein Kamelienstrauch wachsen. Betrachten lässt sich diese rot-weiß-rosa-farbene Fülle besonders gut in einem der zahlreichen botanischen Gärten, Herrenhäuser oder Weingüter, wie etwa dem Pazo de Oca, unweit von Santiago. Botanik-Fans können sich auf die Kamelienroute durch zwölf Gärten und Parks begeben, um sämtliche Spielarten der offiziellen Blume Galiciens zu entdecken.

Wer sich dann noch nicht an historischen Gärten sattgesehen hat, braucht nur die Landesgrenze nach Portugal zu überqueren und kann dort bei einem waschechten Grafen auf seinem imposanten Adelssitz aus dem 17. Jahrhundert residieren. Der Graf Francisco de Calheiros ist ein absolutes Original, der Gäste gerne persönlich in Empfang nimmt und stolz durch sein Anwesen führt. Und das kann sich der Tat sehen lassen. Hoch oben liegt es über der Stadt Ponte de Lima, gerahmt von prächtigen Magnolien und alten Eichen, der Blick schweift über perfekt angelegte Gärten und Weinterrassen weit über das Tal bis hin zur Küste. Das Manor House wartet mit eigener Kapelle, Kaminzimmer und einem wilden Sammelsurium antiker Schätze auf, zu denen der Graf manch Anekdote zu erzählen weiß, gerne auch bei einem Glas hauseigenem Port, nach dem Abendessen an langer Tafel. Wer Einblicke in die noch recht lebendige Adelsszene Portugals bekommen und in einer besonderen Unterkunft nächtigen möchte, ist hier richtig.

Galicier und Portugiesen haben viele Gemeinsamkeiten, angefangen bei der keltischen und der römischen Vergangenheit. Kultur, Sprache und Küche ähneln sich, so wie auch Temperament und Gemüt. Die berühmte portugiesische Saudade, die süße Schwermut, besungen und beklagt im Fado, die Sehnsucht, Melancholie und Einsamkeit beschreibt, ist auch den Galiciern eigen. Wie Cousins seien sie, die sich näherstehen als die Nord- und die Inlandspanier. Zwei Regionen, eine großartige Destination.

In Teil 2 geht es weiter Richtung Porto

Die Recherche wurde unterstützt von Gebeco, Lufthansa, dem Tourismusministerium Galiciens und Santiago Turismo. Vielen Dank für die Einladung.

Der Beitrag Das bisschen Champagner erschien zuerst auf Reisedepeschen.


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